Teil 3: Vom römischen Meißel zur schwarzen Kunst
Das Pergament war ein feineres Schreibmaterial als Papyrus oder Ton-/ Wachstafeln und sonstige Auftragestoffe, und es erlaubte den Einsatz filigranerer Schreibwerkzeuge. Mit Einsatz der Kielfeder entwickelten sich die Unzialschriften, die mit den römischen Eroberungszügen und der damit verbundenen Verbreitung des Christentums nach Britannien getragen wurden. Das Prinzip der Rundung in der Schrift führte zur heute gebräuchlichen Form von Groß- und Kleinbuchstaben. Die Buchstaben standen nicht mehr isoliert für sich, sondern verschmolzen mehr und mehr.
Majuskeln und Minuskel entwickeln sich
Die etwas anstrengend zu lesenden Großbuchstaben, die Majuskelschrift, wurde abgelöst von den Minuskelformen, die sich mit Ober- und Unterlängen als Unterscheidungsmerkmal darstellten.
In der Abgeschiedenheit der irischen Klöster entwickelten sich nationale Unterschriften, die mit der Zeit ihre
Herkunft aus den römischen Halbuncial- und Uncialschriften vergessen liessen und mit Hingabe gestaltet wurden. Besonders in Irland entstanden Kleinode der Schreibkunst. Das Book of Kells wurde nie vollendet und steckt voller Schreibfehler, aber die Illuminationen sind beeindruckend. Es wird heute in der Bibliothek des Trinity College in Dublin gehütet.
Unter Karl dem Großen im 9. -12. Jahrhundert kam es zur Renaissance der Schrift. Unter seiner Herrschaft und der Regie seines Schreibmeisters Alkuin aus York entwickelte man die seither so genannte „karolingische Minuskel„, eine Kleinbuchstabenschrift, die aus der römischen Unciale abgeleitet und den Schriftentwicklungen der Klöster angepasst wurde.
Verwandtschaftlichen und missionarischen Verbindungen zum Kontinent ist es wohl zu verdanken, dass die Minuskeln sich als „Amtsschrift“ Karls durchsetzten. Außerdem hatte Alkuin bei einem irischen Schreibmeister gelernt. In den Schreibschulen wurden vielfach Texte mit verschiedenen Schriften gegliedert, Unciale für Überschriften, Halbunciale für untergeordnete Überschriften und für den Text die Minuskel. Dies war die Blütezeit der Klosterschriften, aus der uns unzählige Schätze erhalten sind, und auch viele Klassiker der Antike, die Karl der Große von seiner „turba scriptorium„, der Schreiberhorde, wie Alkuin sie nannte, kopieren ließ.
Das Buch als Luxusgegenstand
Mit dem Aufblühen der Kaufmannsklasse ab dem 12. Jahrhundert fertigten auch immer mehr Laienschreiber in Auftragsarbeit Urkunden und Abschriften von Büchern an. Zum schnellen Gebrauch gedachte Texte wurden noch immer wie wie bei den Griechen und Römern auf Wachstafeln geschrieben; Pergament war dafür zu teuer, Papyrus zu weit weg. Auch Holztafeln und Baumrinde wurden beschriftet.
Oft wurden ältere Pergamente abgeschabt und wieder verwandt; zum Haare raufen, welche Schätze literarischen und künstlerischen Schaffens damals verloren gingen, bloß, weil das Papier fehlte. Die letzte erhaltene Kopie einer Schrift des Archimedes aus dem 10. Jahrhundert wurde zum Beispiel auf diese Weise vernichtet und erst in unserer Zeit mühsam rekonstruiert. Solche Palimpseste werden heute mit modernsten Durchleuchtungsmethoden wiederentdeckt.
In Rom wurde noch Papyrus verwandt, aber Europa jammerte, wenn ein schöner Obstbaum vom Blitz getroffen wurde, weil so viel Schreibmaterial verloren ging. Der Einfluss des Islam nahm zu. Die Normannen eroberten Sizilien und Süditalien, Spanien war maurisch, und Alfons VI. ließ sich 1085 sowohl nach islamischem als auch nach christlichem Ritus zum König krönen. Sein Herrschaftssitz in Toledo erblühte zu einer Metropole der Wissenschaft, in der arabische Gelehrte viele Werke der Antike übersetzten und so der Nachwelt erhielten. In vielen Bereichen war Europa auf Neandertalerniveau gegenüber dem arabischen Raum; Medizin, Astronomie und Mathematik war durch kirchliche Bremser in ihrer Entwicklung gehemmt worden, und die Araber kannten schon seit dem 8. Jahrhundert die Geheimnisse der Papierherstellung aus Hadern, die sie allerdings auch nicht selbst erfunden, sondern wahrscheinlich chinesischen Kriegsgefangenen mit harschen Mitteln entlockt hatten.
Die Minuskelschrift Karls des Großen hielt sich noch bis ins 13. Jahrhundert und wurde zunehmend enger gepresst und schmaler in ihrer Gestaltung. Nach und nach entwickelte sich aus praktischen Erwägungen daraus die Textur, eine gebrochene Schrift mit strengem Aussehen, auch gotische Schrift genannt.
In den Schreibstuben der Städte saßen unzählige Handwerker mit den unterschiedlichsten Arbeiten befasst, die die Herstellung eines Buches erforderte. Man wurde nicht reich dabei, und die Arbeit war anstrengend. Selbst die größten Künstler hatten nur dann ein sorgenfreies Leben, wenn sie den Reichen auch noch mit anderen Eigenschaften angenehm auffielen. So mancher starb gänzlich verarmt, weil ihm der zugesagte Lohn nicht ausgezahlt wurde, und man bekommt beim Lesen ein ganz anderes Verständnis für den Satz: „Wen die Götter hassen, den machen sie zum Schreiber oder zum Schulmeister.“
Entwicklung der Schriften
Im südeuropäischen Raum wurden rundere Formen als die gotische bevorzugt. Mit einer Nostalgiewelle entwickelte man die Rotunda, auch Italienische Gotisch genannt. Dieser Littera moderna stand eine Littera antiqua gegenüber, die sich aus der karolingischen Minuskel ableitete, die in Italien im 11. und 12. Jahrhundert geschrieben wurde und sich von der Aachener Schrift unterschied.
Aber die Tage der Schreiber waren gezählt. In Venedig errichten die Brüder Johann und Wendelin aus Speyer 1467 die erste Druckerpresse.
Gutenberg entwickelte die Drucklettern aus Blei, Zinn und Antimon, die hart genug waren, dem Druck der Presse standzuhalten. Auch wenn für Illuminatoren noch Arbeit vorhanden war (Platz für Bilder wurde beim Druck ausgespart), so wurden die Techniken doch immer ausgefeilter und Bücher auch für Normalsterbliche erschwinglich. Besonders mit der Verbreitung des Papiers beschleunigte sich diese Entwicklung.
Gutenberg druckte seine erste Bibel noch in gotischer Schrift. Um 1470 erscheint dann auf die zweite gebrochene Schriftgruppe: Die „Schwabacher„, genannt vermutlich nach dem Ort Schwabach bei Nürnberg.
1517 tritt zum ersten Mal die Fraktur auf den Plan. Zu ihren frühesten Benutzern zählt Albrecht Dürer. Mit ihren feineren Buchstaben gewinnt sie rasch Freunde im deutschen Sprachraum. Aber auch bei den östlichen und südöstlichen Nachbarn sowie in Skandinavien findet sie starke Verbreitung. Bis in das 20. Jahrhundert werden nun anfangs alle, später die weitaus meisten deutschen Texte in Fraktur gesetzt.
Dies trägt ihr den Namen „deutsche Schrift“ ein. Der Ausdruck „lettera tedesca“ lässt sich schon Ende des 19. Jahrhunderts in Oberitalien nachweisen. Gemeint ist damit die für deutsche Texte üblich gewordene Schrift, nämlich Schwabacher und Fraktur.
Auch die Technik des Kupferstichs wird ihre Popularität gefördert haben (Kupferstecherfraktur) Als bewußte Gegenschöpfung zur deutschen Schrift kommt zu dieser Zeit die Humanisten-Antiqua auf (Antiqua bedeutet hier nichts anderes als „Altschrift“).
In den 20er und 30er Jahren des 20. Jahrhunderts wurde in Deutschland die Sütterlinschrift als Standardschulschrift eingeführt.
Ludwig Sütterlin war der Entwickler der Schrift, ein Grafiker, der eigentlich nur zusammentrug, was in den Handschriften des 17.-19. Jahrhunderts an Eigenheiten vorkam und daraus diese Schrift entwickelte. Es ist eine Kurrentschrift, etwas nach rechts geneigt und mit Verbindungen zwischen den Buchstaben. Kurrentschriften gibt es noch in einigen Mischformen.
Digitalisierung schafft seelenlose Perfektion
Mit der Erfindung des Computers tritt die Schriftgeschichte in ein neues Stadium. Weitausholende Schwünge und Verzierungen sind dem digitalen Helfer (noch) nicht möglich, aber jeder kann perfekte Schriftstücke in einer unendlichen Anzahl verschiedener Schriften produzieren. Und es ist diese Perfektion, seit Tausenden von Jahren nur von den größten Künstlern ihres Faches erreicht, die die Kalligraphie wieder interessant werden läßt. Die klinische Ausformung einer computergedruckten Urkunde reizt das Auge ungefähr wie Leitungswasser den Gaumen, will sagen: gar nicht. Und so erlebt die Kunst des schönen Schreibens eine kleine Renaissance.
Bestrebungen, das Schreiben mit der Hand nicht mehr als schulische Basisbildung zu begreifen, sind Ausdruck der Hilflosigkeit eines überforderten Systems. Mangelnder Feinmotorik der Schulkinder gegenüber wird lieber kapituliert als entgegen gewirkt. Dabei ist das Erlernen einer Handschrift eine hochkomplexe Angelegenheit, die das Gehirn fördert und entwickelt wie kaum eine andere Tätigkeit. Jeder Buchstabe wird anders geschrieben und erfordert eine spezielle Feinmotorik. Auf der Tastatur tippt sich jeder Buchstabe gleich. Leicht nachvollziehbar, dass ein handgeschriebenes Wort eher im Gedächtnis bleibt als ein getipptes. Und die Feinmotorik, die sich durch das handschriftliche Tun entwickelt, ist sowohl eine körperliche Fähigkeit als auch ein förderliches Instrument zum Erhalt geistiger Kapazitäten.